Jan Hus und die hussitische Bewegung

  • Der Priester und Magister der Prager Universität, Johannes Hus wurde im Jahre 1415 in Konstanz als überführter Ketzer am Scheiterhaufen justifiziert. Er lebt aber bis heute im Bewußtsein des tschechischen Volks ebenso als für seine Glaubensüberzeugung standhaft in den Tod gegangener Bekenner, wie auch als schändlich verratener nationaler Märtyrer weiter. Die deutschen Bewohner Böhmens und der Nachbarländer versagten dem religiösen Überzeugungstäter niemals den ihm billigerweise gebührenden Respekt; bezüglich der von seinen Nachfolgern unter nationalem Aspekt entfesselten, bis an die Ostsee führenden Beutezüge, die weiter oben erwähnt sind, fällt das Urteil freilich zurückhaltender aus.

    An den in der Prager Bethlehemskapelle seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts in tschechischer Sprache gehaltenen öffentlichen Predigten des vermutlich im Jahre 1369 im südböhmischen Hussinetz geborenen Magisters und Professors Johannes Hus schieden sich sehr schnell die Geister. Zunächst in den Universitätsgremien, bald danach in den gehobenen Bürger- und Adelskreisen, endlich auch in der gesamten Einwohnerschaft der Prager Städte und des Königreichs. Vordergründig ging es dabei um die Lehren des Oxforder Theologen John Wiclif (1320-1384). Dieser hatte als einzige Norm in Glaubensdingen ein streng interpretiertes Schriftprinzip samt dessen Konsequenzen für das Glaubensleben von Kirchenhierarchie und allen Gläubigen postuliert. Die massenwirksame wiclifitische Argumentationsweise des Hus wuchs schnell über den Kreis der Universitätstheologen hinaus und fiel, nicht zuletzt dank vieler in Böhmen virulenter waldensischer Überlieferungen, in allen Gesellschaftsschichten auf einen fruchtbaren Boden. Dabei bewirkte eine unkontrollierbare Mundpropaganda zweifellos manche Vergröberungen und Entstellungen, welche das ursprünglich theologische Anliegen schnell zum nationalistischen umfunktionierten.

    Vor dem Hintergrund einer religiös erregten Zeit, in welcher (1378-1417) u.a. zwei/drei Männer gegeneinander beanspruchten, rechtmäßiger Inhaber des päpstlichen Thrones zu sein, während gleichzeitig in Westeuropa nationalkirchliche Ambitionen am geschlossenen Aufbau der Christenheit rüttelten, kann es nicht verwundern, daß auch Mitteleuropa einschlägige Erfahrungen nicht erspart blieben. Mit seinen in Volkssprache abgefaßten Predigten und Schriften, desgleichen mit der durch Statutsveränderung herbeigeführten "Nationalisierung" der Universität Prag, wurde Hus im Volksbewußtsein zur Gallionsfigur aller nationaltschechischen Bestrebungen. Er wurde im Jahre 1409 zum Rektor gewählt und war in weitesten Kreisen so populär, daß selbst seine im Jahre 1411 erfolgte Exkommunizierung ihn weder von seinen Anhängern zu trennen noch die im Lande herrschende revolutionäre Stimmung zu dämpfen vermochte. Nach mancherlei weiteren dramatischen Zuspitzungen, deren Details andernorts mitgeteilt sind, wurde schließlich an dem bis in die Gegenwart populären Johannes Hus, der das Hauptgewicht seiner Bestrebungen und Interessen nach 1412 wieder theologisch-kirchlichen Themen zugewandt hatte, am 6.Juli 1415 zu Konstanz das allgemein bekannte grausame Exempel seiner Verurteilung und Verbrennung als Ketzer statuiert.

    Entgegen manchen Erwartungen war mit dem Feuertod des Bekenners die von ihm angestoßene Bewegung in Böhmen nicht zur Ruhe gekommen. Aber sogar in Konstanz selbst hatte er so standhafte Anhänger, daß dort am 30. Mai 1416 sein Schüler und Jünger, Hieronymus von Prag, ihm auf den Scheiterhaufen nachfolgen mußte. Dieses weitere Ketzerurteil und andere Maßnahmen der Amtskirche erbitterten die Hus-Anhänger so stark, daß es in Prag und Böhmen zu blutigen Aufstandshandlungen kam. Sie griffen immer weiter und chaotischer um sich. Man bezeichnete sie als religiös motivierte Rachezüge gegen den "Mörder", König Sigismund, welcher seinem im Jahre 1419 verstorbenen Bruder, Wenzel IV., auf den böhmischen Thron nachzufolgen berufen war. Erst in den Dreißiger Jahren ebbte diese Schreckens-und Chaosperiode wieder ab, als deren Protagonisten sich insbesondere die Gruppe der radikalen "Taboriten" hervorgetan hatte.

    Schon damals war eingetreten, daß auch die in der Nachfolge des Johannes Hus Stehenden nicht zu vermeiden vermochten, was erfahrungsgemäß bis in unsere Zeit allen eine gewisse Bedeutung erlangenden weltanschaulichen und politischen Zusammenschlüssen zu widerfahren pflegt: abweichende Idealvorstellungen oder -interpretationen, führen zur Entstehung von Fraktionen. Bei den Hussiten finden wir zunächst die für die weitere Entwicklung der Dinge relevanten, gemäßigten "Utraquisten", "Calixtiner" oder "Prager". Diese Bezeichnungen erhielten sie nach ihrer Kommunionspraxis "sub utraque specie", bzw. dem dabei verwendeten Kelch als Glaubenssymbol, bzw. ihrer Herkunft aus Adel, städtischem (Besitz-)Bürgertum und Universität. Zu ihrem Glaubensexercitium gehört der durch den Magister Jakob von Mies im Jahre 1415 eingeführte und von Hus noch aus Konstanz gutgeheißene Laienkelch. Ansonsten vertraten sie den großzügigen Standpunkt, daß im Gemeinde- und Kirchenleben alles beibehalten werden soll/darf, was nicht Gottes Gesetz ausdrücklich zuwiderläuft.

    Neben den Utraquisten bestanden als radikalere, vielfach auch aggressivere, sich auf den hingerichteten Magister Hus berufende Gruppierung die bis in unsere Tage unvergessenen "Taboriten", benannt nach der zwischen Prag und České Budějovice (Böhmisch Budweis) gelegenen Stadt Tábor. Im Rückblick können dieser Gesinnungsgemeinschaft auch die zeitweise abgesplitterten, bzw. wieder eingegliederten und Episode gebliebenen "Waisen" und "Horebiten" zugerechnet werden. Ihnen allen ist gemeinsam, daß ihre Forderungen in Vielem noch über Wiciif und Hus hinausführten. Wir finden bei ihnen ansatzweise demokratische Elemente, aber auch phantastischen Vorstellungen zuneigende kommunistische Ideen. Ihre Lehre wandte sich bezüglich der überkommenen Gemeindepraxis gegen alles nicht ausdrücklich biblisch Gebotene. Die radikalen Gruppierungen rekrutierten sich vornehmlich aus städtischen "kleinen Leuten", weltfremden Schwärmern und der Masse des ungelehrten Landvolks.

    Im Blick auf die späteren Entwicklungen des konfessionellen Lebens in Böhmen, soll nun noch eines lokalgeschichtlich bemerkenswerten, völlig auf der Linie Wiclif-Hus liegenden Dokuments gedacht werden, ungeachtet dessen, daß dieses bereits etwa zwei bis drei Jahrzehnte vor dem Zeitpunkt abgefaßt wurde, von dem ab König Georg von Podiebrad ins allgemeine Bewußtsein von Landeskindern und übriger Welt eintrat.

    Es handelt sich um die im Juni 1420 in utraquistischen Kreisen erarbeiteten und bald danach unter dem Druck der gemeinsamen Interessen auch von den Vertretern aller übrigen Richtungen der hussitischen Bewegung angenommenen "Vier Prager Artikel". Sie wurden als gegenüber der römischen Kirche allgemein anerkannte und verbindliche Glaubenssatzung beschlossen. Die wortreich und unter Zitierung zahlreicher biblischer Belegstellen abgefaßten, auslegungsfähigen Artikel verlangen:

     

    • 1. Dem Auftrag Jesu Christi gemäße freie und unbehinderte Predigt des Wortes Gottes im gesamten Königreich;

      2. Entsprechend den Einsetzungsworten Jesu allgemeine Kommunion unter beiderlei Gestalt mit Brot und Wein (Laienkelch);

      3. Rückkehr der Geistlichkeit zur biblisch gebotenen, apostolischen Armut der Diener des Worts und desgleichen auch der kirchlichen Institutionen;

      4. Kirchenzucht sowie obrigkeitliche Strafen für Todsünden, aber auch für im Rahmen ihrer Amtsausübung begangene Vermögensdelikte und andere schwere Verfehlungen der Kleriker.

       

    Einen neuen Anlauf zur Bereinigung der konfessionellen Verhältnisse und Stabilisierung der innerkirchlichen Hierarchie, unternahm das im Jahre 1431 eröffnete dramatische Konzil von Basel. Man traf dort eine Reihe von Entscheidungen und Gegenentscheidungen; einerseits solche, die nur deklaratorisch blieben, andererseits auch solche, die bleibenden Bestand hatten. Dies gilt z.B. für die Kulmination des Ringens zwischen Episkopalisten und Kurialisten um das künftige Kirchenregiment, aber auch für den Auszug etlicher Konzilsväter nach Ferrara (1438) und weiter nach Florenz (1439). Das Konzil bescherte durch das in der Folgezeit allerdings nur Papier gebliebene päpstliche Unionsdekret "Laetentur coeli" vom Jahre 1439 der westlichen Christenheit den Zusammenschluß mit den von den Türken bedrohten orthodoxen Griechen. Den Franzosen aber eröffnete es den Weg zu der die gallikanische Kirche ermöglichenden Sanktion von Bourges (1438) und diente ungeachtet des großen zeitlichen Abstands als Grundlage der Beschlüsse von Trient.

    In Böhmen standen einander damals wie bisher drei konfessionelle Richtungen gegenüber: hier Gemäßigte, da Radikale und dort "Altgläubige" römischer Obödienz. Dabei war es um die Stabilität des nichtrömischen Lagers sehr schlecht bestellt, und man bekämpfte einander weiterhin sehr heftig. So kam es, daß bereits am 30.Mai 1434 das Feldheer der Taboriten beim Ort Lipany von utraquistischen Truppen besiegt und vernichtet wurde. Im Zuge dieser Entwicklung erlangte das Basler Konzil auch für Böhmen eine spezifische Bedeutung. Diese bestand im Abschluß der Basler Kompaktaten von 1433. Rom bewilligte damit den utraquistischen Hussiten zwar für die Kommunion den Gebrauch des Laienkelchs, ließ aber die übrigen Anliegen der Vier Prager Artikel von 1420 im wesentlichen unberücksichtigt. Dies konnte umso leichter geschehen, als einzelne Bestimmungen, z.B. durch die inzwischen stattgehabte Aufteilung kirchlicher Ländereien an den Landadel, einiges an materieller Aktualität verloren hatten.

    Nach Lipany bestanden zwar keine offiziellen Institutionen des radikalen Hussitismus mehr, aber dennoch gab es im Lande noch zahlreiche über religiöse Themen durchaus eigenbestimmt denkende Menschen. Nicht wenige davon waren Deutsche, z.T. verfolgte Waldenser, die in Žatec (Saaz) mit taboritischer Unterstützung eine überörtliche Basis fanden. Hierbei stand das religiöse Anliegen über dem nationalen, so daß man ihnen seitens der Taboriten sogar die Ausbildung und Weihe von Priestern ermöglichte. Zugleich hatte Basel den Utraquisten zur Errichtung einer quasi tschechisch katholischen Nationalkirche verhelfen. Dabei ist hier aber im Vorgriff auf später Folgendes darauf hinzuweisen, daß Papst Pius II. (Eneas Silvio di Piccolomini, 1458-1464), damals noch "Spitzendiplomat von Kaiser Friedrich III.", der das Basler Konzil aus eigener Erfahrung kannte, die einschlägigen Zugeständnisse des Konzils zwar als solche des Konzils, jedoch nicht als solche des Papstes betrachtete und sie im Jahre 1462 kündigte. Er hat auch den Priester Johannes Rokycana, der vom böhmischen Landtag 1435 zum Prager Erzbischof gewählt worden war, niemals als geistlichen Oberhirten anerkannt.

    Die zwischen den geistigen Exponenten der beiden hussitischen Grundrichtungen weiterhin anhaltenden theologischen und philosophischen Auseinandersetzungen um die rechte Lehre wurden auf überaus hohem Niveau geführt. Zahlreiche uns überkommene Traktate und Abhandlungen, abweichend vom üblichen Latein in tschechischer Volkssprache abgefaßt, sind thematisch der zentralen Abendmahlslehre gewidmet. Hierbei vertreten utraquistische Autoren einen dem römisch-katholischen analogen Standpunkt über die reale Existenz des Leibes Christi im Altarsakrament, während die Taboriten an ihrer Auffassung festhielten, daß Christus in der Gestalt von Brot und Wein geistig gegenwärtig sei. Einen gewissen Schlußstrich bedeutete es, daß nach einer entscheidenden Disputationsniederlage des führenden Taboritentheologen Mikuláš Biskupec z Pelhřímova (Nikolaus Biskupetz von Pilgrams), der Kuttenberger Landtag von 1444 dem Standpunkt des Prager Erzbischofs Rokycana beitrat. Damit waren die radikalen Hussiten aus der utraquistischen Kirche, die auch aus römischer Sicht als rechtgläubig anerkannt sein wollte, ausgestoßen und zusammen mit ihren übrigen Lehrmeinungen und Praktiken als häretisch zu betrachten. Demzufolge war es ihnen auch verboten, eigene organisatorische Strukturen aufrechtzuerhalten oder auszubauen. Folgerichtig wurden sie im Jahre 1453 vom damaligen "Gubernator" des Königreichs, Georg von Podiebrad, nach Eroberung ihres vormaligen Hauptstützpunkts, der Stadt Tabor, zersprengt. Das Leben ihres ersten und letzten Bischofs, Nikolaus von Pilgrams, endete im Gefängnis.

    Um die Jahrhundertmitte waren in Böhmen - allenfalls vordergründig - nach offizieller Eliminierung der radikalen taboritischen Strömungen die Wogen sanfter geworden. Römische und böhmische Katholiken (d.h. Utraquisten) hatten sich abgefunden, beiderseits wissend, daß eine kurzfristige Veränderung des eingependelten Statusquo auch mit Gewalt nicht durchsetzbar sei. Daneben war man sich wohl auch des nunmehr ermöglichten symbiotischen Nebeneinanders der Konfessionen zustimmend bewußt, welches dem Nebeneinander der beiden Machtexponenten analog war: der König schützte die Katholiken, der Gubernator die Utraquisten. Dennoch hatte sich bei nicht wenigen Zeitgenossen die Gedankenwelt des jahrzehnteweit zurückliegenden waldensisch-wiclifitischen Vätererbes erhalten und wirkte fort. Seine Anhänger waren vorwiegend an urchristlichen Idealen orientierte, friedensbereite Menschen. Sie lebten als Stille im Lande, vermieden Polemik und verfolgten keine missionarischen Zieletzungen. Im Umgang mit den kirchlichen Institutionen vermieden sie dogmatische Konflikte. Einer ihrer führenden Repräsentanten, Petr Chelčický (Peter von Cheltschitz), hatte dies in dem Sinne formuliert, daß man ins Ringen um die tschechische Nationalkirche nicht eingreifen, sondern mit ihr äußerlichen Frieden bewahren, innerlich aber nichts zu tun haben wolle. Aus seinem von Resten der böhmischen Waldenser und Taboriten verstärkten Umkreis ging die Unität der Böhmischen Brüder hervor, welche im Jahre 1457 in Ostböhmen ihre erste Gemeinde begründeten. Sie waren Pazifisten, bestritten ihren Lebensunterhalt als Handwerker, lehnten Eidesleistung, Waffendienst und öffentliche Ämter ab. Dennoch verfolgte sie der Utraquist Georg von Podiebrad mit Nachdruck. Er wollte dem Papst keinen Anlaß zum Vorwurf liefern, daß er in seinem Lande ketzerische Häretiker dulde oder gar unterstütze. Vergebens! Bereits 1462 kündigte Pius II. die Basler Kompaktaten, und schon 1466 belegte er den Böhmenkönig mit dem Kirchenbann. Dieser Schlag konnte auch durch die im Jahre 1467 seitens der Brüder erfolgte Trennung von der utraquistischen Kirche mittels Wahl eines eigenen Bischofs nicht abgewehrt werden.

    Damit blieben die kirchlichen Verhältnisse in Böhmen weiterhin kontrovers und schwer überschaubar. Immerhin gelangte man am Kuttenberger Landtag von 1485 so weit, daß römisch-katholische und "tschechisch-katholische" (utraquistische) Kirche einander als offizielle Landesbekenntnisse anerkannten, wohingegen die Böhmischen Brüder sowohl im Jahre 1503, wie auch 1508 für vogelfreie ketzerische Sektierer erklärt wurden.

    Gerhard Messler