• Oskar Sakrausky

     

    Der evangelische Auftrag der Vertriebenen (1980)

    Es sind 35 Jahre her, daß der Zweite Weltkrieg zu Ende ging und das deutsche Flüchtlingselend begann. Heute erkennen wir, daß dieses Jahrhundert durch die beiden Weltkriege gekennzeichnet ist. Denn unser Jahrhundert hat den traurigen Ruhm, mehr Flüchtlinge, Vertriebene und Gefangene aufzuweisen als alle Jahrhunderte zusammen seit Christi Geburt.

    Blicken wir hinter die Kulissen des politischen Geschehens, dann nehmen wir wahr, daß dieses Jahrhundert auch mehr Verfolgte um ihres christlichen Glaubens aufweist, als alle bisherigen Jahrhunderte. Und das bedeutet für uns als christliche Gemeinde: Das Evangelium soll nach Gottes Willen nicht nur aus einer gesicherten Position im Gottesdienst, in der Diakonie und in der Mission verkündet werden, sondern auch durch das Leiden. Ein Märtyrer ist ein Glaubenszeuge durch Leiden. Es kann geschehen, daß auch wir eines Tages auf diese Weise unseren Glauben zu bezeugen haben.

    Angesichts dieser Tatsache haben wir uns als Vertriebene nach 35 Jahren zu fragen, in welcher Weise wir unseren Glauben zu bezeugen haben.

    Was bedeutet das - nach einem Abstand von 35 Jahren - heimat- vertrieben zu sein? Wenn man jemanden aus seiner Heimat vertreibt, dann heißt das, ihn seelisch, geistig und auch finanziell zu verstümmeln. Er ist ein Gezeichneter und er trägt dieses Zeichen bis zu seinem Tode mit sich. Ein verstümmelter Mensch.

    Und hier setzt das eigentliche Fragen ein: Warum hat Gott uns das angetan? Und als Christen fragen wir deutlicher: Wozu hat Gott uns das angetan? Haben wir vielleicht eine besondere Botschaft, einen besonderen Auftrag als Gezeichnete auszurichten? Einen besonderen Auftrag im Rahmen seiner Gemeinde? Denn es ist doch wohl Gottes Wille gewesen, daß er uns so gezeichnet hat, daß er uns dieses Schicksal bereitet hat, daß er unsere Identität und Existenz so verstümmelt hat? Haben wir vielleicht den Menschen in unserer neuen Heimat den Frieden des Evangeliums von Christus zu verkündigen? Nein, sie haben schon lange das Evangelium. Kam es doch von Doktor Martin Luther aus Wittenberg über Johannes Mathesius in unsere Heimat nach Böhmen und nach Österreich. Oder, wären wir vielleicht als Heiden hierhergekommen, die von dem Frieden in Christus nichts gehört hätten? Auch das ist unrichtig: Kamen wir doch aus einem geordneten Kirchenwesen, aus geordneten Gemeinden, in denen wir Sonntag für Sonntag das Evangelium gehört haben und am Tisch des Herrn seine Gegenwart gefeiert haben.

    Aber das ist es: Auf Grund unseres Textes erkennen wir, daß wir eins sind mit den Christen hier zu Lande, daß wir hier keine Gäste und Fremdlinge als Christen sind und daß es darin keinerlei Unterschiede gibt zwischen den Christen hier und uns. Gleich ob wir aus Siebenbürgen oder aus dem Schwarzmeergebiet, aus Schlesien oder Ostpreußen, aus Böhmen oder aus Mähren gekommen sind, wir sind in Christo keine Fremden sondern "Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen." Wir haben hier eine geistliche Heimat gefunden. Wir haben hier Sonntag für Sonntag den Zuspruch des Evangeliums, die Vergebung unserer Sünden durch Christus und Anteil am Erbe der Heiligen im Licht. Wir sind keine "Gäste". Gäste nannte man zu Luthers Zeiten besitzlose Menschen, die kein Bürgerrecht hatten. Wir aber sind in Christus hier in der neuen Heimat Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen.

    Aber es ist auch ein anderes zu sagen: Die Unterschiede zwischen uns und unseren hiesigen Glaubensgenossen bleiben. Sie sind stark und einschneidend und sie bleiben, solange wir leben: Es ist unsere Sprache, es sind unsere Erinnerungen und Erfahrungen, es sind unsere andersartigen Wertbegriffe - es ist unsere Verstümmelung als Heimatlose und Vertriebene. Wiederum haben wir als Christen zu fragen: Was sollen wir damit? Welchen Auftrag haben wir als so Geprägte?

    Der Text unserer Predigt antwortet abermals: Er gibt uns ein Bild, ein Gleichnis von der Gemeinde Gottes, zu der wir gehören. Auf Christus hin, dem Eck- oder Schlußstein, wächst der ganze Bau der Gemeinde, "ineinandergefügt als heiliger Tempel in dem Herrn." Das sind wir, die sich ineinanderfügen mit jenen, die schon immer dagewesen sind, zu einem Bau, an welchem Christus der Schlußstein des Gewölbes ist. Gott, der Steinmetzmeister, hat also jeden von uns und von ihnen als Teil dieses Baues mit seinen Flächen und Winkeln, mit seiner Funktion und Tragfähigkeit vorher berechnet und zu-gerichtet, damit der Bau eine Einheit wird, worin jeder seinen Platz und seine Aufgabe hat.

    Ja, Gott hat uns zugerichtet, der Bauherr seiner Gemeinde, er hat seine Werkzeuge bei uns angesetzt, hat uns in der Heimat zugerichtet, uns mit den Erfahrungen der Diaspora ausgerüstet. Er hat uns erleben lassen, was es heißt, eine verschwindende evangelische Minderheit unter den vielen Katholiken zu sein, oder als eine Minderheit von Deutschen unter andersvölkischen, tschechischen, russischen, slowenischen, ungarischen oder kroatischen Mehrheiten zu leben. Diese Zurüstung war gewiß oft ein schmerzhafter Prozeß und besonders als Gott uns diese so anders geartete Heimat nahm und hierherbrachte.

    Nun will er uns einfügen hier in das Gewölbe seiner Gemeinde mit einer besonderen Aufgabe auf Grund unserer besonderen Zurüstung.

    Wir haben in der evangelischen Diaspora in Österreich erlebt, daß unsere Gemeinden hundertfältig von den hiesigen Christen Hilfe erfahren haben. Immer wieder kam Unterstützung aus Deutschland, sei es materielle oder personelle Hilfe gewesen. Sie kam über das Gustav-Adolf-Werk, über den Martin-Luther-Bund oder über den Evangelischen Bund und war nicht nur für uns Deutsche bestimmt, sondern ging gleicherweise an Tschechen, Slowaken, Ungarn, Slowenen und Andersvölkische, soweit sie evangelisch waren. Die Hilfe beschränkte sich auch nicht auf Lutheraner oder Reformierte, sondern schloß alle evangelischen, augsburgischen oder helvetischen Christen ein.

    Wenn wir nun diese Erfahrungen als evangelische Christen der Diaspora gemacht haben, sollten wir nicht gleichsam von Gott zugerüstet als Fachleute der Diaspora unseren Auftrag in dem Dienst an der Diaspora sehen? Immer wieder klagen die verantwortlichen Mitarbeiter der hiesigen Diasporawerke, sie hätten nicht genügend Nachwuchs in ihrer wichtigen Arbeit, die ja nicht aufgehört hat, seitdem der Osten von deutschen Evangelischen fast entleert wurde. Sind doch unsere evangelischen Glaubensbrüder und Schwestern im Osten in besonderer Bedrängnis und Not um ihres Glaubens willen ausgesetzt. Wer kennt ihre Lage besser als wir? Und wer weiß besser, wie man ihnen helfen sollte, als wir? Ein weites Aufgabengebiet weist uns Gott damit zu und für dieses hat er uns auch zugerüstet,

    Aber auch ein Drittes ist zu sagen: Nicht nur als Menschen, die aus einer evangelischen Minderheit kommen, haben wir einen Auftrag an unseren Glaubensgenossen in unserer früheren Heimat. Wir haben auch als völkische Minderheit unsere Diasporaerfahrungen den hiesigen Deutschen zu vermitteln. Dieser Auftrag ist kein parteipolitischer, sondern ein Auftrag, für den uns Gott zugerüstet hat. Wenn unsere Generation aus dem Kampf um seine völkische, kulturelle, politische und geschichtliche Existenz kommt, dann kann sie auch in der neuen Heimat aus ihren Erfahrungen Wesentliches beitragen. Hat sie doch wie keine andere erlebt, wohin Schwäche aber auch Verzerrung des völkischen Selbstbewußtseins führt. Wäre es nicht notwendig, daß diejenigen, die von draußen kommen, etwas zu der Geschichte dieses Volkes zu sagen haben? Hat sie Gott vergeblich gerettet, hat Gott vergeblich diesem Volk nach dem Zweiten Krieg wieder geholfen? Wenn es auch nicht Aufgabe der Kirche ist, parteipolitische Beiträge zu geben, so ist es doch ihre Aufgabe, die Menschen daran zu erinnern, daß auch die völkische Ordnung eine gute Gabe Gottes ist, die man nicht - wie es heute in den Medien geschieht - verachten und nicht in den Kot treten darf. Darauf hinzuweisen ist Aufgabe derer, die Gott in eine neue völkische Existenz gerettet hat.

    Beide Aufgaben, die nach draußen und die nach drinnen, hat Gott uns mitgegeben. Aber wenn Gott Aufgaben gibt, dann macht er es nach der Art des Weingärtners: Er schneidet den Weinstock so zusammen, bis er nach seiner Meinung die rechten Früchte gibt. Darum wird für die Erfüllung dieser Aufgaben gelten: Kein Applaus, kein Dank, kein rascher Erfolg wird uns beschieden sein, sondern Opfer, Anfeindung, Unverständnis und Verachtung. Das betrifft alle Aufgaben, die Gott den Menschen auferlegt, letztlich aber gilt und bleibt sein Wort, daß er seine Gemeinde baut und dazu alle, die er brauchen will, zurüstet. Darum wird er uns auch hier, in der neuen Heimat, wie früher in der alten Heimat, als kleine Herde mit seiner Verheißung trösten, aufrichten und neuen Mut geben: "Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben!" Amen.

    (Predigt über Eph. 2, 17-22 am 15. Juni 1980, in Bad Rappenau anläßlich der Jahrestagung der Johannes-Mathesius-Gesellschaft, abgedruckt in: Mitteilungen der Johannes-Mathesius-Gesellschaft IV/1980, S. 145-148)